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Prof. Dr. Hans Bertram

Prof. Dr. Hans Bertram ist Leiter des Lehrbereichs Mikrosoziologie der Humboldt-Universität Berlin.

»Unser Problem ist nicht die Alterung, sondern eine Politik ohne Ideen«

Herr Bertram, Alterung und Bevölkerungsschwund sind derzeit zentrale Zukunfts- und Angstvorstellungen. Die Stichworte lauten: Leere Städte, Altersarmut, härtere Kämpfe um ein schrumpfendes Bruttosozialprodukt. Ist das realistisch? Oder ist da eine deutsche Neigung zur Katastrophe im Spiel?

Es gibt eine Art demografische Krisenstimmung, die stark von Projektionen bestimmt wird. Es kommt darauf an, wie wir gesellschaftlich reagieren. Unser Problem ist nicht die Alterung, sondern die Verschwendung von Humankapital. Denn wir gehen davon aus, dass niemand, der älter als 60 oder 65 ist, produktiv sein kann. Das ist eine historisch ganz neue Vorstellung, die erst seit den 70er Jahren existiert. Die düsteren Prognosen werden nur eintreten, wenn wir es nicht schaffen, das wachsende Potenzial von älteren, noch produktiven Menschen einzubeziehen. Das ist kein Schicksal, sondern Politik.

Also auch eine Flexibilisierung der Lebensverläufe?

Ja, und die müssen wir allen abverlangen: der Wirtschaft und den Einzelnen. Warum muss eine Lehrkraft aus Berlin-Neukölln, die mit 55 verständlicherweise ein Burnout-Syndrom hat, in Rente gehen? Warum lernt er oder sie nicht etwas Neues und arbeitet in dem Job. Das Kernproblem ist, dass wir die starre Dreiteilung des Lebens überwinden müssen: erst lernen, dann möglichst viel arbeiten, dann Rente.

Die Geburtenrate in Deutschland gehört zu den niedrigsten in Europa. Reichen finanzielle Anreize, damit Deutsche wieder mehr Kinder kriegen?

Ich denke, finanzielle Anreize allein reichen nicht, obwohl wir wissen, dass sich zum Beispiel entsprechende Anstrengungen der australischen Regierung positiv ausgewirkt haben. Man geht insgesamt aber eher davon aus, dass ein Mix von Infrastrukturangeboten, Zeitstrukturen und Geld die richtige Politik ist, um sicherzustellen, dass junge Menschen, die sich Kinder wünschen, das auch realisieren. Und man kann sagen, dass die Bundesrepublik sowohl in Bezug auf die Frage der Infrastruktur als auch auf Zeitpolitik nicht besonders vorangeschritten ist.

Elterngeld, Vätermonate, eine größere Zahl an Kinderbetreuungsangeboten – was braucht es noch, um Deutschland zu einem kinderreicheren Land zu machen?

Kinderfreundlichkeit ist nicht nur bei unter Sechsjährigen gefragt. Für Eltern spielt auch der Bereich Schule eine große Rolle. Wenn deutsche Eltern sich für ein drittes Kind entscheiden, ist das erste in der Regel sieben oder acht Jahre alt. Wenn die Eltern dann in der Schule die Erfahrung gemacht haben, das geht gar nicht, weil die Schule vielleicht so katastrophal ist, entscheiden sie sich möglicherweise gar nicht für ein drittes Kind.
Wir sind stolz darauf, dass wir gerade einmal eine verlässliche Grundschule haben. Aber Mittagessen gibt es trotzdem nicht. Zehnjährige Kids könnten möglicherweise nachmittags hervorragend in der Schule mit ihren Hausaufgaben betreut werden. Das haben wir alles nicht in Deutschland. Ich habe gerade eine nationale Unicef-Studie erarbeitet, die kritisch angemerkt hat, dass deutsche Kinder in Bezug auf die Kommunikation mit ihren Eltern große Defizite feststellen. Aber warum? Die Eltern sind in Deutschland wegen dieser Schulstrukturen so etwas wie Hilfslehrer der Nation. In anderen Ländern wie den USA sind die Schüler/innen, wenn sie nach Hause kommen, mit den Schularbeiten fertig.

Viele Kommunen im Landkreis Cuxhaven richten zurzeit Krippenplätze ein, die meisten davon als Teilzeitangebote. Ist es sinnvoll, auch in ländlichen Regionen vermehrt Ganztagsangebote vorzuhalten?

Es ist immer schwierig, wenn sie in einem festen Haus Angebote machen, weil sie nicht wissen, ob die Eltern gerade da wohnen, wo das feste Angebot ist. Insofern muss man vor der Frage der Ganztagsangebote die Frage stellen, ob man das nicht eher so handhaben sollte wie in Frankreich. Dort wurde sehr stark in Tagesmütter investiert, um ein hohes Maß an Flexibilität entsprechend den Bedürfnissen der Eltern zu sichern. Tagesmutter meint in Frankreich einen richtigen Beruf, die Tagesmütter sind versicherungspflichtig beschäftigt. Der Unterschied ist, dass sie nur ganz kleine Gruppen betreuen und die können ganz nah bei den Kindern organisiert werden. Zurück zur Frage ganztags oder halbtags. Ich denke, die Frage der Zeit, die man anbietet, ist häufig sehr schwer einzuschätzen, weil man nie genau weiß: Wie sieht in der Region beispielsweise die Erwerbstätigkeit der Frauen aus?
Wie sind die Wertvorstellung der Eltern hinsichtlich der Betreuung? Das kann man jeweils nur vor Ort entscheiden, indem man mit den Eltern darüber diskutiert, was ihre Bedürfnisse sind.

Kinderkrippen sind nicht unumstritten. Kritiker glauben, dass die Betreuung der Entwicklung von Kleinstkindern schadet. Was meinen Sie dazu?

Das ist schwer zu beantworten. Man kann wohl mit relativer Sicherheit sagen, dass bei Kindern unter einem Jahr, die ganztags betreut werden, wenn sie größer sind, zu einem größeren Prozentsatz Verhaltensprobleme auftreten. Kollegen, die das erforschen, führen das aber ganz entscheidend auf die Qualität der Betreuung zurück. Wenn man den Empfehlungen der amerikanischen pädiatrischen Gesellschaft folgt, die sich auch mit dieser Frage auseinander setzt, heißt es: Bei den unter Zweijährigen sollte eine akademisch gebildete Erzieherin nicht mehr als fünf Kinder betreuen. Und da muss man schauen, wie die Relationen sind. Je größer die Kindergruppe ist, desto schwieriger ist es für die Erzieherin, den Kindern die Zuwendung zu geben, die für die kindliche Entwicklung notwendig ist. Man kann keine Krippe mit 20, 30 Kindern und zwei Erzieherinnen eröffnen. Man muss schon mehr investieren.

Sie beraten Bundestag und Bundesregierung in Sachen Familienpolitik. Was würden Sie Kommunen für ein höheres Maß an Familienfreundlichkeit empfehlen?

Kommunen müssen akzeptieren, dass Familienpolitik nicht nur Bundesangelegenheit ist, sondern auch kommunale Angelegenheit. Man muss in Familien und Kinder investieren und das als Investition in die eigene Zukunft begreifen. Das heißt: Mal lieber keine Straße bauen, sondern eher eine Erzieherin einstellen.

Interview: Heike Leuschner und Jörg Matzen