Räume öffnen, Dialoge ermöglichen

Dr. Susanne Mayer

Dr. Susanne Mayer ist Redakteurin des Literaturressorts der ZEIT und Autorin des Buches ›Deutschland armes Kinderland‹ (2002)

»Familienpolitik als eine Übung in Solidarität«

Frau Mayer, wie stellt sich Ihnen die Situation der Familien heute dar?

Über Familien wird heute viel mehr geredet als noch vor zehn Jahren. In der Gesellschaft gibt es ein Gefühl dafür, dass etwas schief gelaufen sein muss, wenn junge Leute heute sich nicht für Kinder entscheiden mögen. Wenn sie sogar immer weniger auch nur den Wunsch nach einer eigenen Familie verspüren. Familienpolitik ist ein hartes politisches Thema geworden. Politiker begreifen ganz allmählich, was ihnen die Experten seit Jahrzehnten sagen: dass diese freiheitliche Gesellschaft, Wohlstand und Wohlfahrt ohne Jugend kollabieren wird. Aber das Thema wird noch nicht so ernst genommen wie die Arbeitslosigkeit. Obwohl doch offenkundig ist, dass schon in Kürze der Arbeitsnotstand ausbrechen wird, weil der Nachwuchs fehlt oder mittlerweile auch gerne abwandert in familienfreundlichere Länder.
Es wird heute viel geredet über Familie, aber getan wird kaum etwas. Das Leben mit Kindern ist nach wie vor ein hoch komplizierter Hindernislauf. Kinder aufzuziehen ist geradezu systemwidrig, weil die Arbeitswelt, die öffentlichen Räume, oft gerade auch Orte für Kinder wie Kindergärten und Schulen nahe legen, dass Kinder da eigentlich nur Störfaktoren sind, eine Belastung oder Belästigung. Eltern sollen privat alles abfedern, wenn Überstunden nötig sind, ihre Kinder irgendwie wegorganisieren, wenn die Schule ausfällt, natürlich zu Hause sein und dort privat den Kindern an Schulstoff eintrichtern, was die hoch bezahlten Lehrer vormittags nicht geschafft haben. Und wenn im kommunalen Etat Geld fehlt, erhebt man einfach eine Bildungssteuer pro Kinderkopf, angeblich für Schulbücher, jedenfalls so, dass die zunehmend kinderlose Allgemeinheit von den Kosten für die Jugend entlastet wird. Im Augenblick ist ja sogar im Gespräch, das Existenzminimum für Kinder einzukassieren, das über das so genannte Kindergeld pauschal von der Steuer entlastet wird. Man brauche das Geld für Kindergärten! Heißt: Kinder sollen mit ihrem Essen und ihrer Kleidung jetzt bitte selber für ihren Kindergarten zahlen.

In jedem anderen Land Europas sieht man mehr Kinder auf den Straßen. Was ist los in Deutschland?

Vielleicht mag man in Deutschland einfach keine Kinder. Dass Kinder in diesem Land die größte Gruppe der Armen stellen – regt das jemanden auf? Wenn Jahr für Jahr internationale Studien uns bescheinigen, dass der Unterricht an den Schulen oft
unprofessionell, ja dilettantisch ist, den Kindern wertvolle Lebenszeit stiehlt, ohne sie angemessen mit Bildung auszustatten – wer findet das empörend? Dass alle zehn bis zwölf Minuten ein Kind in diesem mörderischen Verkehr verletzt wird – gäbe es irgendeinen Politiker der sagte: Wir müssen den Verkehr anders organisieren, wir können doch nicht unsere Kinder totfahren? Dass Kinder etwas Wunderbares sind, das Leben bereichern, einer ganzen Gesellschaft eine Perspektive geben – und im übrigen Bürger mit Rechten sind – die Einsicht scheint wenig verbreitet.

Wie können wir es anstellen, aus »diesem armen Kinderland«, wie sie es in Ihrem Buch beschreiben, ein Familienparadies zu machen?

Das ist ganz einfach. Wir fühlen alle, was Kinder brauchen. Viel Zuwendung von möglichst vielen Menschen, nicht nur von Mutti übrigens, auch von Vater, Onkeln, Tanten, Omas und Opas, alle müssen sich engagieren, und zwar nicht mal nur so, wenn es zwischen zwei Reisen passt, sondern zuverlässig.

Kinder brauchen viele Kinder um sich, Geschwisterkinder, Nachbarkinder, Spielkameraden und viel anregenden Raum, um sich in der Bewegung und im Spiel zu entfalten. Kinder brauchen Spielstraßen dort wo sie wohnen und Orte der Begegnung, Krippen, Kindergärten, Ganztagsschulen, in denen sie für ihren Lernhunger die angemessene Nahrung finden, assistiert von hoch qualifizierten und engagierten Erziehern. Und die Familien müssen die Chance haben, den Unterhalt für sich und ihre Kinder zu verdienen. Die Zeit in der Familie muss entmüllt werden von der mühseligen Nacharbeit für nicht funktionierende Schulen, es muss die Zeit da sein, wirklich Familie zu leben.

Wer sind die Adressaten einer neuen Familienpolitik?

Die Politiker müssen die Richtung vorgeben und klare Ziele formulieren. Zum Beispiel: Senkung der Armutsraten der Familien auf den Bundesdurchschnitt. Oder: Hebung der Geburtenraten. Wir brauchen den Bürgermeister, der sagt: In unserer Stadt kommen keine Kinder mehr unter die Räder, stattdessen erweitern wir den Bewegungsraum der Kinder. Spielen vor der Haustür! Ein Gemeinderat müsste beschließen, dass sie alles in Bewegung setzen und jedem neuen Bürger der Stadt zum ersten Geburtstag eine wundervolle Ganztagsbetreuung schenken und vier Jahre später eine tolle Ganztagsschule. Man will doch junge, hoch qualifizierte Eltern halten, oder? Die Bildungsbehörden müssten versprechen, dass man die Kinder nicht mehr hängen lässt, sondern sie nach Kräften fördert, damit sie endlich dieselben Chancen auf eine gute Ausbildung haben wie im restlichen Europa. Nur wenn die Politik sich mit allen Konsequenzen für Kinder entscheidet, kann sie von den Bürgern erwarten, dass die in ihrem Leben dasselbe tun und Eltern werden. Weil sie dann starke Partner haben. Politiker müssen neue Familienpolitik als eine Übung in Solidarität formulieren. Gerade wer selbst keine Kinder hat, ist doch ganz existentiell darauf angewiesen, dass sich in dieser Gesellschaft möglichst viele andere für Kinder entscheiden. Und das geht nur, wenn der Aufwand für die junge Generation von allen solidarisch geteilt wird. Das mindeste wäre, den Einsatz für Kinder in den Sozialversicherungen voll zu honorieren, wie das Bundesverfassungsgericht es seit Jahren fordert.

Was geschieht, wenn nichts geschieht?

Unsere Lebensfreude wird in einem Meer von grauen Köpfen und alternden Körpern untergehen. Wir werden, wie ein Soziologe es mal sagte, weniger Liebespaare sehen, weniger Lachen hören, weniger Lebendigkeit erleben. Der norwegische Kinderombudsmann hat mal angesichts der deutschen implodierenden Geburtenzahlen gesagt: »Dann könnt ihr Deutschland ja bald zumachen.« Aber kein Land kann sich hier alleine retten. Natürlich wird die ganze Region Europa wirtschaftlich an den Rand gedrängt werden von Nationen, die wie Indien und China stolz sind auf eine gut ausgebildete starke Jugend. Die Geschichte hat viele Beispiele dafür, wie ehemals blühende Regionen verarmen und in die Bedeutungslosigkeit versinken.

Dr. Susanne Mayer ist Redakteurin des Literaturressorts der ZEIT und Autorin des Buches ›Deutschland armes Kinderland‹ (2002)

Das Gespräch führte Jörg Matzen.