Dr. Andreas Hinz ist Professor für Allgemeine Rehabilitations- und Integrationspädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. die schulische und berufliche Integration, Heterogenität in der Schule, Pädagogik der Vielfalt sowie Inclusive Education und inklusive Schulentwicklung.
Herr Hinz, Sie haben sich in Ihrem beruflichen Leben theoretisch und praktisch für die Inklusion von Menschen, insbesondere von Kindern in der Schule, eingesetzt. Weshalb benötigen wir Inklusion in unserer Gesellschaft?
Eigentlich stehen wir ganz grundsätzlich vor der Frage: was für eine Gesellschaft wollen wir eigentlich sein? Wenn ich mir die letzten Jahre der sozialen oder sozialpolitischen Entwicklung anschaue, dann drängt sich der Eindruck auf, wir werden mehr und mehr eine gespaltene Gesellschaft. Um als Gesellschaft zu funktionieren, müssen wir lernen, dass Unterschiede nicht nur etwas Tolerierbares sind, sondern etwas, von dem alle profitieren können und was wir für unsere eigene und gesellschaftliche Weiterentwicklung produktiv machen können (…).
Wo sehen Sie heute die stärksten Herausforderungen für die Realisierung von Inklusion?
Hinter Inklusion steckt ja eigentlich die Idee, dass jeder Mensch die Chance hat, wertgeschätzt zu werden, willkommen geheißen, von anderen akzeptiert zu werden. Und das ist natürlich eine riesige Herausforderung und würde eigentlich – und mir ist bewusst, dass ich jetzt im Bereich von Vorstellungen, nicht Utopien, sondern Visionen bin – das würde ja eigentlich auch bedeuten, dass es den Menschen (…) nicht allein von der Ansprache, von der Interaktion her, sondern auch von der ökonomischen Situation her akzeptabel gehen können müsste. Das ist die eine große Herausforderung. (…) Zum anderen glaube ich, dass das am Schwierigsten im inklusiven Sinne weiterzuentwickeln ist, was (…) die soziale Heterogenität in unserer Gesellschaft betrifft. Also das, was wir so leicht als soziale Brennpunkte benennen, wobei nicht diese Automatik besteht: »Je ärmer, desto furchtbarer« und: »Je reicher, desto toller«. Es gibt da ja auch eine Wohlstandsverwahrlosung, und es gibt auch sehr starke Leute, die sich gegenseitig unterstützen im so genannten sozialen Brennpunkt.
Der Begriff ›Inklusion‹ ist in Deutschland in den Sprachgebrauch aufgenommen, aber viele Menschen benutzen ihn als Synonym für ›Integration‹. Sie haben Differenzierungen vorgenommen. Können Sie uns die Unterschiede erläutern?
Das ist alles ein bisschen kompliziert, finde ich, weil nämlich der Unterschied zwischen Inklusion und Integration ganz maßgeblich davon abhängt, was ich für eine Idee davon habe, was Integration ist. Häufig wird Integration so benutzt, dass auf eine bestimmte Zielgruppe Bezug genommen wird. Das sind dann die Menschen mit Behinderungen, das sind die Menschen mit Migrationshintergrund, und die sollen in die Gesellschaft hinein integriert werden. Da sind wir, wenn ich vor allem die Praxisentwicklung anschaue, (…) relativ schnell dabei, dass wir Integration sagen, aber Assimilation wollen. Da ist Anpassungsdruck dabei. Aus der Migrantenszene wird das sehr stark artikuliert: »Eigentlich wollt ihr, dass wir am besten so deutsch werden, wie ihr seid«. Das ist kein Theorieproblem der Integration, sondern ein Praxisproblem der Integration. (…) Für mich ist Inklusion eigentlich etwas sehr allgemeines (…). Es geht in meinem Verständnis gerade nicht darum, bestimmte Personengruppen in den Blick zu nehmen, sondern die Perspektive auf die Frage der sozialen Qualität und des Zusammenlebens für alle Menschen zu richten. Da gibt es welche, die sind mit größeren Barrieren konfrontiert und dadurch haben sie größere Probleme. Das liegt aber nicht daran, dass jemand etwa im Rollstuhl sitzt oder nicht reden kann oder kein deutsch sprechen kann. Das ist eine Frage, wie die Gesellschaft oder konkreter, die Gemeinschaft im kommunalen Umfeld (…), wie die mit dieser Unterschiedlichkeit umgeht. Insofern hat Inklusion zum einen den ganz großen Fokus auf alle Menschen und zum anderen auch einen sehr stark systemischen Blick. Es wird nicht auf die Probleme von einzelnen Menschen geschaut, im Sinne von: wie können wir denen denn dabei helfen, dass sie mehr teilhaben können, sondern (…) auf den Sozialraum, (…) eine Schule, eine KiTa, ein Stadtteilzentrum, eine Kirchengemeinde, ein Rathaus. In welchem Maß ist dort inklusive Qualität vorhanden, so dass alle die Chance haben, willkommen geheißen zu werden? Das ist ein anderer Blick als bei Integration.
Gehen wir gemeinsam mit der nächsten Frage noch einmal in den Praxisalltag. Wir haben in Bildungseinrichtungen mit Gruppen zu tun. Menschen sind verschieden, die Gruppen daher heterogen. Wie können wir als Lehrer/innen, Erzieher/innen oder Erwachsenenbildner/innen die individuellen Bildungsbedarfe des Einzelnen erfüllen, wenn wir z.B. so genannte Hochbegabte und Menschen mit geistiger Behinderung in einer Gruppe haben?
Oh, da habe ich ganz viel in meiner Zeit in Hamburg im gemeinsamen Unterricht in den Integrationsklassen gelernt. Da gibt es immer sofort das Stichwort des ›vieldifferenten Unterrichts‹. Für mich geht es in folgende Richtung: Wie können wir es bei einem gemeinsamen Thema, bei einem gemeinsamen inhaltlichen Zusammenhang hinbekommen, und ich sage bewusst wir, weil das in der Regel dann nicht mehr ein Mensch alleine kann, da braucht es Team- und Unterstützungsstrukturen, also wie sind Lernsituationen so zu arrangieren, dass die Beteiligten mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen von superkonkret bis absolut abstrakt und hochgeistig, (…) teilhaben können? Dass sie alle etwas dabei lernen können, und dass sie in diesem Prozess auch noch was miteinander zu tun haben (…). Ein Beispiel ist mir stark in Erinnerung geblieben.
…
Gesamtschule in Hamburg, 5. Klasse, zwei Jungen, die schon seit fünf Jahren gemeinsam zur Schule gehen. Der eine hätte wahrscheinlich sein Abitur schon in der 5. Klasse bekommen können, weil klar war, dass er das schafft, der andere wäre vermutlich in einer Schule für geistig behinderte Kinder gelandet. Dieser Junge fängt jetzt in der 5. Klasse an zu lesen und interessiert sich für bestimmte Wörter. Er will etwas rauskriegen, und üblicherweise wäre es die Aufgabe einer Lehrerin oder eines Lehrers gewesen, zu gucken, wie eine Wörterdatei für ihn gemacht sein muss – z.B. mit kurzen Wörtern und mit bestimmten Buchstaben. Das genau war dann eine Aufgabe, die sich sein Mitschüler gestellt hat. Im Wochenplanunterricht hatten sie eine bestimmte Zeit pro Woche zur Verfügung, die sie mit verabredeten und allgemeinen wie selbst gewählten Zielen verbringen konnten. Dieser sehr begabte Mitschüler hat dann angefangen, eine Wörterkartei zu entwickeln und sie mit seinem Klassenkollegen gemeinsam zu bearbeiten. Für mich war das eine Sternstunde.
Es war für mich ein Beispiel, wie ganz unterschiedliche Fähigkeiten von beiden produktiv wurden. Wir haben ja häufig dieses Bild, dass die ›Guten‹ immer helfen sollen, aber selber nicht dabei lernen. Der Junge hat sich im Grunde didaktische und methodische Gedanken gemacht: ›Wie kann ich Lernprozesse von jemand anderem unterstützen? Was ist für meinen Mitschüler jetzt ein angemessenes Wort? Welche Worte sind viel zu lang, zu schwierig‹? (…) Das war für ihn nicht nur eine soziale Anforderung oder Herausforderung, sondern auch eine kognitive Herausforderung. Alles genauso hinzubasteln und zu planen, dass es für seinen Klassenkameraden passt. Es ist ein kleines Beispiel, da geht es nur um zwei Kinder, aber es ist (…) transformierbar für ganze Lerngruppen.
Nun eine eher soziologische Fragestellung: Inklusion als Einschluss, Einbeziehung und Dazugehörigkeit könnte als Zwang zur Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft gedeutet werden. Gerade in der Behindertenpädagogik ist aber von Betroffenen sehr auf das Selbstbestimmungsrecht verwiesen worden. Können Sie uns erläutern, wie die Forderungen nach Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen und die Forderung nach Inklusion zusammen gedacht werden können?
(…) Es gibt keine gute deutsche Übersetzung für Inklusion. Einschluss klingt sofort nach Gefängnis, um 18.00 Uhr wird eingeschlossen. Das ist überhaupt nicht, was damit gemeint ist. Es bedeutet eine zunehmende Fähigkeit von Institutionen, von Einrichtungen, von Sozialräumen, sich den unterschiedlichen Bedürfnissen von Menschen gegenüber zu öffnen und zu versuchen, denen immer besser zu entsprechen. Das heißt aber natürlich nicht, dass da jeder jetzt hingehen und sich an allem beteiligen müsste. Es ist im Grunde die Herausforderung, gesellschaftliche Barrieren abzubauen, so dass die Leute, die wollen, und die es auch auf eine bestimmte Art und Weise wollen, weniger mit Barrieren konfrontiert sind, als bisher. Insofern habe ich in den letzten Jahren zunehmend gelernt, bei Inklusion nicht nur strukturell zu denken, etwa: es müssen jetzt alle in die eine Schule für alle, und die Strukturen müssen so weiterentwickelt werden, sondern Inklusion viel stärker prozesshaft zu denken. Was sind die nächsten zwei oder drei Schritte? Das werden natürlich immer unterschiedliche sein. Je nachdem, wie weit (…) eine Kindertageseinrichtung auf dem Weg ist, sich für alle Kinder und ihre Notwendigkeiten und ihre Bedürfnisse zu öffnen. Und das hängt natürlich immer auch vom Umfeld ab. Angefangen bei eher schlichten Dingen wie: »Haben wir eigentlich Informationen über unsere KiTa für Eltern in unterschiedlichen Sprachen?« In der einen KiTa wird das überhaupt nicht der Bedarf sein, in der anderen ist es dringend notwendig. Je nachdem, wo wir uns gerade in Deutschland aufhalten, kann es französisch oder türkisch oder vietnamesisch oder russisch sein. Stärker in Schritten zu denken, macht, glaube ich, Inklusion auch ein ganzes Stück handhabbarer und verringert bei vielen Menschen dieses Gefühl von »Oh Gott, jetzt muss alles anders werden« und »Wie sollen wir das auch noch schaffen«.
Welche Rolle hat in diesen Zusammenhängen die Erwachsenenbildung, und wie bewerten Sie deren Grad an Inklusion? Brauchen wir möglicherweise einen Inklusionsindex in der Erwachsenenbildung?
Zunächst: Der Index für Inklusion, der von uns an der Luther-Universität Halle-Wittenberg für deutsche Verhältnisse übersetzt und adaptiert wurde, bietet die Möglichkeit, inklusive Schulentwicklung zu fördern. Er ist eine Materialsammlung, die jeder Schule bei den eigenen nächsten Schritten ihrer Schulentwicklung hin zu einer ›Schule für alle‹ helfen kann, die eine Pädagogik der Vielfalt anstrebt. Die Materialien knüpfen an dem vorhandenen Wissen und den Erfahrungen der Menschen in ihrer jeweiligen Praxissituation an. Sie fordern die Entwicklungspotenziale jeder Schule heraus und unterstützen sie gleichzeitig – unabhängig davon, in welchem Maße die Schule momentan meint, ›inklusiv‹ zu sein.
Ob die Erwachsenenbildung einen eigenen Inklusionsindex braucht, da bin ich mir ehrlich gesagt nicht sicher, weil ich nicht genau weiß, ob in der Erwachsenenbildung die Herausforderungen so massiv anders sind, als in anderen Bildungsbereichen. Das Anregungspotenzial, das der Schulindex für Schulen bereit hält, wäre vielleicht für die Erwachsenenbildung auch ganz interessant.(…) Wir überlegen gerade, ob wir bei der nächsten Auflage des Index für Inklusion nicht vielleicht einen Index (…) für Bildung generell und nicht nur für die Schule entwickeln. Er würde im Grunde von der KiTa bis zur Erwachsenenbildung und Uni alles einschließen. Aber dazu habe ich, ehrlich gesagt, noch keine feste Meinung.
Interview: Eva Berns