Räume öffnen, Dialoge ermöglichen

Dr.in Uta Pohl-Patalong

»Jetzt ist gerade noch die Zeit, um Veränderung auf einer guten Basis zu gestalten – aber nicht mehr allzu lange.«

Sie schreiben, die klassische Ortsgemeinde dürfe in der bisherigen Form nicht mehr weiterzuführen sein. Aus welchen Gründen?

Sowohl aus inhaltlichen Gründen als auch aufgrund von Ressourcen. Um mit diesen zu beginnen: Die klassische Ortsgemeinde ist eine Form von Gemeinde, die man sich als das Ergebnis vorstellen könnte, wenn man bewusst eine besonders ressourcenaufwändige Form von Gemeinde suchen würde. Sie ist aber natürlich historisch gewachsen und setzt sich ja aus ganz verschiedenen Entwicklungsstufen und Epochen zusammen. Gerade diese Kombination unterschiedlicher Logiken von Gemeinde macht sie aber so ressourcenaufwändig: Wir haben einmal das flächendeckende System, das schon dem Mittelalter entstammt mit der Idee, dass jedes Wohngebäude einer Gemeinde zugewiesen wird und die Bewohner*innen des Gebäudes dann dort Gemeindeglieder per Zuweisungsprinzip sind.
Das wird kombiniert mit dem Konzept von Gemeinde Ende des 19. Jahrhunderts, das die Gemeinde über den Verwaltungsbezirk hinaus als christliche Gemeinschaft entwarf mit Beziehungen nicht nur der Gemeindeglieder untereinander, sondern auch und gerade zu den Hauptamtlichen und darunter noch mal besonders zu den Pfarrpersonen. Hinzu kam dann in den 1960er und 1970er Jahren ein möglichst umfassendes Angebot an Gruppen, Kreisen und Projekten vor Ort, um möglichst viele Gemeindeglieder zu erreichen. Dies überall und mit engen Beziehungen zu Hauptamtlichen und gerade zu Pfarrpersonen zu denken, erfordert sehr viele Ressourcen und Kräfte. Und das fällt uns im Moment einfach auf die Füße.

Schon vor der aktuellen Personalkrise war es ja ein Problem, dass diese Erwartung an ein möglichst umfassendes Angebot vor Ort einen hohen Druck erzeugt hat. Der Wirkungsgrad von Pastor*innen wurde am brummenden Leben im Gemeindehaus festgemacht und daran, möglichst viele der nominellen Kirchenmitglieder des eigenen Bezirks in die Gemeinde zu integrieren. Das ist einer der Gründe, warum seit Jahrzehnten viele Hauptamtliche und auch engagierte Ehrenamtliche über Überlastungstendenzen klagen und die Burnout-Gefährdung im Pfarrberuf außergewöhnlich hoch ist. Wenn jetzt hinzukommt, dass die Zahl der Hauptamtlichen sinkt und die Ehrenamtlichkeit zwar nicht insgesamt zurückgeht, aber das klassische Ehrenamt erodiert, das Bedarfe der Institution erfüllt, dann kommt diese Form von Gemeinde endgültig an ihre Grenzen.
Hinzu kommt aber auf inhaltlicher Ebene, dass die klassischen Formen der Ortsgemeinde seit Jahrzehnten konstant nur für 10 bis 15 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder attraktiv ist – und dass sich diese Prozentzahl nicht verändert, obwohl die absolute Zahl von Kirchenmitgliedern seit den 1970er Jahren massiv zurückgegangen ist. Dieser Erosionsprozess hat sich in den letzten Jahren beschleunigt und wird sich in den nächsten Jahren noch weiter beschleunigen, zumal – wie auch die gerade erschienene sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD zeigt – überdurchschnittlich viele Menschen, die zu den 10 bis 15 Prozent gehören, in der älteren Generation zu finden sind.

Das heißt also, wir haben mit dieser traditionellen Form von Ortsgemeinde einen sehr hohen finanziellen und personellen Aufwand mit einer verhältnismäßig geringen Reichweite. Gleichzeitig zeigt auch die KMU VI erneut, dass Menschen aus der evangelischen Kirche in der Regel nicht als Form des Protests gegen die Kirche austreten, sondern weil sie ihnen einfach nicht genügend relevant erscheint, um dafür 8 Prozent ihrer Einkommensteuer aufzuwenden. Das aber bedeutet: Wir brauchen Formen von Kirche und Gemeinde, die mehr, andere und sehr viel unterschiedlichere Menschen anziehen, als die Ortsgemeinde das kann.

Sie sprechen von einem kippenden System. Was verstehen Sie darunter?

Das meint die Einschätzung, dass das ortsgemeindliche Konstrukt im Sinne der gleichzeitigen Verbindung von Flächendeckung, Angebotsdichte und persönlichem Kontakt in mindestens einer der drei Säulen nicht mehr funktionieren wird. Wir sehen dies in Ostdeutschland, wenn eine Pfarrperson für zwölf Gemeinden und 19 Predigtstellen zuständig ist: Dann ist ein umfassendes Angebot überall vor Ort und eine intensive Beziehung zu den Hauptberuflichen schlechterdings nicht mehr möglich. Das heißt, das System kippt insofern, dass sich mindestens eine der drei Säulen, vermutlich eher zwei von ihnen, verabschiedet.

In einigen Gemeinden ist das ›R-Wort‹, also Regionalisierung mittlerweile verpönt. Ich interpretiere das so, dass Gemeinden einerseits in seriellen Prozessen der Selbstabschaffung schlicht überfordert sind und sich von einem Sparzyklus zum nächsten ›retten‹. Andererseits ist ›Regionalisierung‹ ein Anpassungsprozess an sinkende finanzielle Ressourcen und als solcher nicht gerade attraktiv. Regionalisierung wird mit Verlust in Verbindung gebracht und schon gar nicht mit Aufbruch.

Diese Deutung teile ich völlig, dass die ständige Anpassung aufgrund von noch weiter zurückgehenden Ressourcen auslaugt, man auch irgendwann einfach nicht mehr kann und nicht mehr mag und ein Gefühl permanenter Mangelverwaltung aufkommt. Und ich glaube, die Schwierigkeit von ›Regionalisierung‹ oder von dem ›F-Wort‹ ›Fusion‹ liegt darin begründet, dass viele in Gemeinden Engagierte das Gefühl haben, ihnen werde viel genommen, ohne dass sie etwas dadurch gewinnen. Und das passiert genau dann, wenn man Veränderung eben nur als Anpassungsprozess versteht und versucht, noch möglichst viel in größerem Rahmen aufrechtzuerhalten. Wenn ich könnte, würde ich das Wort ›noch‹ oder das Denken im ›Noch‹ für die nächsten 20 Jahre aus der Kirche verbannen, weil es eben das rückwärtsgewandte Denken ist – und stattdessen nach vorne blicken in neue Weisen, Kirche zu sein.

Wie kann Kirche lebensrelevant und attraktiv gestaltet werden?

Meine Vision ist, die Strukturanpassung wirklich zu beenden und das System ›umfassendes Angebot – persönliche Beziehung zu den Hauptamtlichen – Flächendeckung‹ nicht weiterzuführen. Ich plädiere dafür, Kirche neu zu denken und neu anzusetzen. Das bedeutet einen Abschied von der Verknüpfung von Kirche und Ort, die ja auch dann dominant ist, wenn Gemeinde regionalisiert gedacht wird, und stattdessen inhaltlich zu fragen: Was ist der Auftrag der Kirche und in welchen Formen wird er heute besonders gut erfüllt?

Eine Formel für diesen Auftrag, auf die sich im Moment viele einigen können, ist die »Kommunikation des Evangeliums«. Ich verstehe sie so, dass der Auftrag der Kirche darin liegt, möglichst vielen und unterschiedlichen Menschen zu ermöglichen, Erfahrungen mit der unbedingten Liebe Gottes zu ihnen und zur gesamten Schöpfung zu machen. Das konkretisiert sich in sehr unterschiedlichen Themen, Handlungsfeldern, Arbeitsbereichen, Inhalten. Konkret stelle ich mir vor, dass die Gemeinden und die sog. ›übergemeindlichen‹ Einrichtungen, also alle ›kirchlichen Orte‹ jeweils bestimmte Aufgabengebiete der Kirche exemplarisch wahrnehmen. Sie nehmen dann Abschied von dem generalistischen Allround-Angebot, sondern sagen: Wir machen vor Ort nicht alles, sondern das – mit Zeit, Liebe und Leidenschaft.
Das setzt voraus, genau hinzusehen: Was kann diese Gemeinde, dieser kirchliche Ort besonders gut? Was bietet sich an diesem Ort von seinem Kontext her an? Was brauchen Menschen in räumlicher Nähe? Welche Traditionen gibt es, an die man anknüpfen und die man ausbauen könnte? Was sind gute Ideen? Ich plädiere dafür, dass die kirchlichen Orte, die Gemeinden und anderen kirchlichen Einrichtungen zunächst auf ihre Stärken blicken und dann ein Profil entwickeln, das nach vorne weist: Wozu haben wir Lust? Was können wir gut? Wo sehen wir Chancen? Wo sehen wir Potenziale? Wofür ist Energie da? Und das dann in einem weiteren Schritt, in einem dann tatsächlich regionalen Rahmen, zu beraten: Wie stimmen wir uns so ab, dass nicht alle die gleichen Schwerpunkte wählen? Wie stellen wir sicher, dass alle Handlungsfelder gut vertreten sind, die uns wichtig erscheinen, um wirklich Kirche zu sein? So muss es sicher irgendwo in der Region ein Profil geben, das diakonische Arbeit leistet. Irgendwo in der Region muss es Jugendarbeit geben, irgendwo müssen Familien, müssen Singles, müssen Trans*Personen, Wohnungslose etc. eine kirchliche Heimat finden. Diese Überlegungen, welche Profile und Schwerpunkte aus theologischen Gründen wichtig sind, werden dann in Beziehung gesetzt zu den Ideen, zu den Talenten, zu den Stärken, zu den Möglichkeiten, die vor Ort vorhanden sind. Das hieße also, wegzukommen von der Idee, die Struktur der Ortsgemeinde im größeren Rahmen zu reproduzieren, wegzukommen von dem umfassenden Angebot vor Ort, wegzukommen davon, dass die persönliche Beziehung zu den Hauptamtlichen zu stark im Mittelpunkt steht.

Welche entgegenkommenden Strukturen braucht es zur Umsetzung Ihrer Vision? Wir erleben ja auch die beharrenden Kräfte in kirchenleitenden Gremien.

Wir brauchen möglichst viel Engagement für ernsthafte Reformen auf jeder Ebene. Und wir müssen aufhören, auf die anderen zu zeigen, die sich angeblich nicht bewegen wollen. Wenn ich mit Pfarrpersonen arbeite, höre ich ganz oft, wir würden gerne, aber die Ehrenamtlichen ziehen ja nicht mit und die Leitung blockiert. Wenn ich mit Ehrenamtlichen arbeite, höre ich, wir würden gerne, aber die Hauptamtlichen… Und wenn ich mit der leitenden Ebene spreche, die würden sowieso immer gerne, aber …
Ich erlebe eigentlich auf allen Ebenen zumindest verbal eine große Aufgeschlossenheit und tatsächlich seit drei, vier Jahren auch ein ernsthaftes Interesse, gemeinsam darüber nachzudenken, wie Veränderung vorangebracht werden könne. Es gab immer viele Argumente, warum das irgendwie wahlweise gar nicht geht oder gar nicht nötig ist. Das hat sich geändert.

Diese deutlich gewachsene Bereitschaft, auf Veränderung zuzugehen wird dadurch motiviert (und das ist die zweite entgegenkommende Struktur), dass die Grenzen der jetzigen Praxis einfach immer deutlicher werden. Und ich glaube tatsächlich, dass dieses doch recht träge Gebilde Kirche in den zu Trägheit neigenden Strukturen von Kirche eine extrinsische Motivation durch einen extremen Mangel braucht, der zeigt: Ein ›weiter so‹ ist keine Option mehr.

Viele der heutigen Ideen sind ja nicht neu. Wenn ich Literatur aus der Kirchenreformbewegung der 1960er und 1970er Jahre lese, dann finde ich es oft unglaublich, dass damals Ideen formuliert wurden, die wir heute als zukunftsfähig sehen. Weil damals aber genügend Ressourcen da waren, hat die Einsicht allein nicht gereicht. Auch die Finanzkrise der 1990er Jahre war nicht ausreichend für wirkliche Reformen. Jetzt aber könnten die Personalkrise und die Mitgliederkrise gleichzeitig den Anstoß bieten, den Sprung zu wagen, eben weil das bisherige System sowieso nicht weiterführt. Ich glaube, dass die Ressourcen noch für vielleicht 10 bis 15 Jahre reichen, um das System so einigermaßen in vielen Regionen, lange nicht mehr in allen, am Leben zu erhalten, danach aber nicht mehr.

Das aber bedeutet: Jetzt verfügen wir noch über Möglichkeiten, Übergangslösungen zu finden und eine verhältnismäßig weiche Transformation zu ermöglichen. Die Alternative ist zu warten, bis das System zusammengebrochen ist. Dann ist, Gott sei Dank, die Kirche nicht tot. Aber man fängt dann unter viel schlechteren Bedingungen an, Kirche neu zu denken, als wir es jetzt mit den noch vorhandenen volkskirchlichen Strukturen tun würden. Daher ist jetzt gerade noch die Zeit, um Veränderung auf einer guten Basis zu gestalten, aber nicht mehr allzu lange – dann können wir nur noch auf den Abbruch reagieren.

Interview: Jörg Matzen
Technischer Support: Laura Borda