Joachim Bauer ist Internist und Psychiater und in beiden Fächern auch habilitiert.

Für herausragende neurowissenschaftliche Arbeiten wurde er von der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie mit einem renommierten Forschungspreis geehrt. Bauer ist Autor viel beachteter Sachbücher, darunter die Titel ›Das Gedächtnis des Körpers‹, ›Warum ich fühle was du fühlst‹, ›Prinzip Menschlichkeit‹, ›Schmerzgrenze‹ und ›Selbststeuerung‹. Zuletzt erschien im Jahre 2019 im Blessing-Verlag sein Werk ›Wie wir werden, wer wir sind‹. Bauer war viele Jahre erfolgreich an der Universität Freiburg tätig. Er lebt, arbeitet und forscht in Berlin, wo er eine Gastprofessur innehat und an mehreren Instituten als Dozent und Supervisor tätig ist.

Herr Bauer, die Frage, was der Mensch ›von Natur aus‹ ist, wird von jeher kontrovers diskutiert. Von der Beantwortung hängt viel ab. Unserem Denken und Handeln zugrundeliegende Menschenbilder fließen als vorreflexive Selbst- und Weltinterpretationen in die Entwicklung von Annahmen, Zielen, Entscheidungen und Haltungen ein. Ob ich den Menschen vom Grunde her als egoistisch oder sozial sehe, ob in einer Gesellschaft eher positive oder negative Menschenbilder wirksam sind: Bilder vom Menschen bestimmen offenbar nicht nur, wie wir miteinander umgehen, sondern haben Folgen in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen. Daher: Wonach streben Menschen, welche Grundmotivationen liegen unserem Handeln zugrunde? Wie lassen sich der »Mensch und seine inneren Antriebe aus moderner neurobiologischer Sicht beschreiben?«

Das stärkste den Menschen antreibende Motiv ist, die Anerkennung und Zuneigung seiner Mitmenschen zu erwerben und sich sozial zugehörig zu fühlen. Charles Darwin hielt die ›sozialen Instinkte‹ des Menschen für die stärksten. Er schrieb: »Die höchste Befriedigung stellt sich ein, wenn man ganz bestimmten Impulsen folgt, nämlich den sozialen Instinkten.« Natürlich wusste Darwin um die menschliche Aggression, einen Aggressionstrieb sucht man bei ihm aber vergebens. Die modernen Neurowissenschaften geben ihm insoweit recht. Leider ist der Mensch, dessen ungeachtet, zu schlimmster Grausamkeit fähig. Auslöser von Aggression sind schwere Vernachlässigung im Kindesalter, später dann soziale Ausgrenzung, Demütigung, selbst erlittene Gewalt und Angst.

Von Sigmund Freud stammt der Satz: »Wir streben mehr danach, Schmerz zu vermeiden als Freude zu gewinnen.«

Wir Menschen streben nach beidem. Im Übrigen hat Freud seinen Darwin gut gelesen, bei dem sich nachlesen lässt: »Die meisten oder alle fühlenden Wesen haben sich (…) dergestalt entwickelt, dass sie sich habituell von angenehmen Empfindungen leiten lassen.«

Gibt es nicht ausreichend Beispiele dafür, dass angesichts des weltweit herrschenden ökonomischen Systems, angesichts der Krisen und Kriege die destruktiven Kräfte des Menschen Oberhand gewinnen? Sind Verunsicherungen und Ängste, die Verwüstung unserer Lebensgrundlagen, gesellschaftliche Spaltung und Kommunikationsabbrüche nicht beklemmende Belege für das Potenzial menschlicher Aggression?

Ungerechtigkeit und Ausbeutung bedeuten soziale Ausgrenzung, und soziale Ausgrenzung erzeugt Hass und Gewalt. Das Gegengift wäre globale Fairness. Mit der Profitgier werden wir uns selbst den Garaus machen. Die Potenziale menschlicher Aggression sind nahezu grenzenlos. Ein größerer Atomkrieg kann die Erdkugel in eine Wolke einhüllen, von der Sonnenstrahlung abschirmen und in einen eisigen Schneeball verwandeln, in eine – wie die Wissenschaftler es nennen – ›snowball earth‹, so wie es in der Frühphase der Erdgeschichte übrigens schon einmal der Fall war.

Sie schreiben, dass Ausgrenzung oder vorenthaltener sozialer Kontakt den »biologischen Kollaps der Motivationssysteme des Gehirns« zur Folge hat. Was meinen Sie damit?

Wie schon erwähnt, streben fühlende Lebewesen danach, gute Gefühle zu haben. Gute Gefühle fallen nicht vom Himmel, sondern stellen sich nur dann ein, wenn die sogenannten Motivationssysteme des Gehirns ihre Wohlfühl-Botenstoffe, also Dopamin und Konsorten herstellen und in den Körper geben. Damit sind wir bei der Frage: Was muss auf einen Menschen einwirken, um seine Motivationssysteme zu aktiveren? Die Antwort lautet: Diese Systeme werden aktiv, wenn ein Mensch erlebt, dass er von seinesgleichen ›gesehen‹, respektiert und sozial akzeptiert wird. Dazu gehört auch, sich um des Anderen willen auch einmal miteinander auseinanderzusetzen und konstruktiv zu streiten. Es geht also nicht um ›Friede-Freude-Eierkuchen‹. Eltern, die keine Zeit für ihre Kinder haben und sie stattdessen mit Geld oder teuren Klamotten, Smartphones oder Videospielen verwöhnen, erzeugen in ihrem Nachwuchs keine Motivation.

Beziehen wir Ihre Perspektive auf unsere Bildungsinstitutionen: was lässt sich über die Bedeutung des Beziehungsgeschehens zwischen Lehrenden und Lernenden aus neurobiologischer Sicht sagen bzw. daraus folgern?

Was ich gerade über die Eltern sagte, gilt genauso für Erzieherinnen und Erzieher sowie für schulische Lehrkräfte. Kinder und Jugendliche sollen von ihren Pädagoginnen und Pädagogen als Person ›gesehen‹ werden. Nur wer Kindern und Jugendlichen empathisch begegnet und ihnen Zuwendung und Ermutigung zuteilwerden lässt, kann dann auch Anstrengungsbereitschaft und die Beachtung ethischer Standards einfordern.

Ich erlebe in Schulen und Hochschulen, dass den Emotionen und der Beziehungsgestaltung eine untergeordnete Bedeutung beigemessen wird; sie seien für den ›Lernerfolg‹ nicht entscheidend. Was kann ich diesen Mitmenschen entgegnen?

Lehrkräfte, Ausbilder und Hochschullehrer, die nicht beziehungsorientiert arbeiten, sondern Gleichgültigkeit, Kälte oder Zynismus ausstrahlen, sind Fehlbesetzungen. Man könnte, wenn sie sich etwas sagen ließen (was meistens nicht der Fall ist), ihnen sagen, dass sie nicht wissen, wie Menschen ticken und an den neurowissenschaftlichen Gegebenheiten vorbeiarbeiten. Leider leisten wir uns die entscheidenden Fehler und Mängel natürlich bereits in der Lehrerausbildung. Dies ist der Grund, warum ich das ›Lehrercoaching nach dem Freiburger Modell‹ entwickelt habe, das darauf zielt, Lehrkräfte – unter Einbeziehung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse – für Beziehungsaspekte ihres Berufes zu sensibilisieren.

Wie können Ihre Erkenntnisse auf das gesellschaftliche Zusammenleben bezogen werden? Worin sehen Sie aus neurobiologischer Sicht die Voraussetzungen und Bedingungen dafür, dass der soziale Zusammenhalt erhalten oder gestärkt wird?

Die entscheidenden Voraussetzungen sind Bindung und Bildung. Bindung heißt: Kinder brauchen in den ersten beiden Lebensjahren dyadische, also zweiseitig angelegte Beziehungen mit Eltern oder liebevollen Betreuerinnen oder Betreuern, jenseits des zweiten Lebensjahres verlässliche, konstante Ansprechpartner, die ihnen helfen, in der Gruppe mit anderen Kindern die Welt und die Regeln des sozialen Zusammenlebens zu entdecken.

Wie können Bürger/innen in ihrem Alltag von den neurobiologischen Erkenntnissen profitieren?

Hier kommt die Bildung ins Spiel. Sie nimmt mit dem Schuleintritt nur ihren Anfang und darf nach Verlassen der Schule nicht aufhören. Bildung heißt nicht nur, intellektuelles oder technisches Wissen, sondern die Einsicht zu erwerben, dass Menschen nur unter Beachtung der Grundtugenden Platos in einer Gesellschaft zusammenleben können: Mut, Weisheit, Mäßigung und Gerechtigkeit. Christen haben diesen Tugenden später noch Glaube, Liebe und Hoffnung hinzugefügt.

Interview: Jörg Matzen

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