»Schule hat nicht nur die Aufgabe, die Gehirne der Schüler zu bewirtschaften und maximale Leistung herauszuquetschen.«

50.000 Einzelstudien mit 250 Millionen Schülern hat der Bildungsforscher John Hattie ausgewertet, um diese Frage zu beantworten. Dr. Ewald Terhart, Professor für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik an der Universität Münster, bricht die Erkenntnisse auf die heimische Schullandschaft herunter. Vor seinem Vortrag im Ev. Bildungszentrum Bad Bederkesa erläutert er im NZ-Interview mit Marc Wagner, worauf es im Klassenzimmer wirklich ankommt.

John Hattie, der zurzeit wohl weltweit einflussreichste Bildungsforscher im Bereich der Schulpädagogik, hat eine Studie verfasst, die guten Unterricht in der Schule in einem anderen Licht erscheinen lässt. Der neuseeländische Bildungsforscher hat den gesamten weltweit verfügbaren Wissensstand zu Bedingungen schulischen Lernens in einem Werk zusammengefasst und aus dem großen Fundus an empirischen Erkenntnissen Erfolgsbedingungen von Bildung und Erziehung in schulischen Kontexten extrahiert. 136 Einflussfaktoren bringt Hattie in ein Ranking, darunter solche, die dem Lernerfolg abträglich sind, die weder schaden noch helfen oder die besonders stark wirken.
Jetzt kommt es darauf an, die Studie kritisch zu rezipieren und ggf. Konsequenzen zu ziehen.

»Sie fragten sich: Was wirkt? Nein, ich fragte: Was wirkt am besten? Irgendeinen Effekt hat jede Unterrichtsmethode. Schüler lernen in der Schule fast immer etwas. Ich möchte aber wissen, was man tun kann, damit Schüler die größten Lernfortschritte machen. Das muss der Maßstab sein für jede Art von Schulreform.« (John Hattie in einem Interview)

›Auf die Lehrer kommt es an‹

Herr Terhart, 136 Einflussgrößen für Unterricht hat John Hattie bewertet. Als Laie komme ich nicht einmal auf annähernd so viele. Was hat denn nun den größten Einfluss auf guten Unterricht?
Auf das Handeln der Lehrer im Klassenzimmer kommt es an, weniger auf die äußeren Rahmenbedingungen. Wichtig ist eine Haltung der Lehrer, die den Schülern zeigt, dass sie sich für deren Lernfortschritt interessieren. Den Schülern muss deutlich werden, dass der Lehrer etwas für sie und bei ihnen erreichen will. Das Feedback der Lehrer an die Schüler und ein vertrauensvolles Verhältnis sind die entscheidenden Faktoren.

Das klingt für mich fast nach einer Selbstverständlichkeit …

Das ist richtig. Das Eigentümliche aber ist, dass in der Wirklichkeit diese Selbstverständlichkeit nicht immer gegeben ist. Durch seine Auswertung der Studien weist John Hattie noch einmal auf diese zentrale Rolle von Rückmeldung und Feedback hin. Insofern hat er nichts Neues erfunden, sondern an der Stelle Wichtiges bestätigt.

Nun bewegen sich Lehrer oft in einem strengen Korsett, das die Politik vorgibt. In Niedersachsen haben wir zum Beispiel gerade die Debatte G8 oder G9. Wie schätzen sie die Diskussion ein?
Ich glaube, dass die Einführung des G8 in vielen Bundesländern verunglückt ist und zu einem großen Druck geführt hat. Von daher ist es jetzt verständlich, dass zurückgerudert wird. Man muss aber darauf achten, dass jetzt nicht umgekehrt im Hauruckverfahren der gleiche Fehler begangen wird. Es muss also sehr sorgfältig vorbereitet werden, wenn man wieder zu G9 zurückkehrt.

»Das Feedback der Lehrer an die Schüler und ein vertrauensvolles Verhältnis sind die entscheidenden Faktoren.«

Ist denn aus Sicht der Forschung eines der Systeme vorzuziehen?

Wissenschaftlich kann man sowohl für die eine als auch die andere Variante Argumente finden. Solche Entscheidungen müssen letztlich wirklich bildungspolitisch und demokratisch legitimiert gefällt werden. Wenn man Politik durch Wissenschaft ersetzen könnte, bräuchte man ja nur die besten Professoren in der Regierung. Und das wäre eine bizarre Vorstellung!

Sie haben die wichtige Rolle des Feedbacks angesprochen. Momentan beschränkt sich das oft auf die Ziffernnote.

Feedback meint, dass die Schüler einen ausführlichen Kommentar zu ihrem Lernstand und zu ihren Lernproblemen bekommen. Diese Art von Feedback hat eine wichtige didaktische und fördernde Funktion. In diesem Kontext ist es wenig hilfreich, wenn man einem Schüler zum Beispiel eine ›2,3‹ hinlegt. Wenn es aber um selektive, für den weiteren Bildungsweg bedeutsame Entscheidungen geht, die auf der Basis von allgemeingültigen Leistungsstandards getroffen werden müssen, kommt man am Ende nicht darum herum, Ziffernnoten zu bilden. Nur damit kann – trotz aller Schwächen des Notensystems – eine Vergleichbarkeit hergestellt werden.

Ist diese Selektion in der Schule denn noch mit der nun in Niedersachsen verbindlichen, inklusiven Beschulung zu vereinbaren?

Durch Inklusion wird natürlich die Heterogenität, die Unterschiedlichkeit der Schülerschaft noch größer. Ganz allgemein gilt: Schule muss jeden Menschen zu seinen maximalen Möglichkeiten fördern. Dies ist ihre zentrale und gesetzlich definierte Aufgabe. Ich meine aber, dass das Schulsystem auch die unterschiedliche Leistungsfähigkeit von Schülern benennen muss. Wie sollen Personen späteren Bildungswegen, Berufen und Positionen zugeordnet werden, wenn nicht nach den Kriterien von Leistung und Eignung? Wenn man diesen Aspekt von Schule abschaffen würde, dann würden sich wahrscheinlich sogar uralte Faktoren wie Geburt und soziale Herkunft noch stärker durchsetzen, als sie es heute leider immer noch tun.

Ist der engere und individuellere Austausch zwischen Schülern und Lehrern an Ganztagsschulen vielleicht besser zu leisten?

Bisherige Untersuchungen in Deutschland haben ergeben, dass an Ganztagsschulen keine gesteigerte Lernleistung gegeben ist. Das ist aber in Ordnung. Schule hat nicht nur die Aufgabe, die Gehirne der Schüler zu bewirtschaften und maximale Leistung herauszuquetschen. Sie muss fördern, integrieren, Teilhabe sicherstellen, sie muss eine gewisse soziale und demokratische Grundhaltung vermitteln. Das Kriterium der gemessenen Lernleistung ist da zu schmal. Die Ganztagsschule bietet großes Potenzial für die Verwirklichung dieser breiteren Bildungsaufgaben.

Welche Faktoren behindern laut John Hattie Lernerfolge?

Er hat zum Beispiel herausgefunden, dass Sitzenbleiben, das ja in vielen Bundesländern verteidigt wird, den Lernerfolg nicht nur nicht fördert, sondern ihn eher behindert. Exzessiver Medienkonsum ist ebenso hinderlich wie sehr lange Sommerferien, die es in anderen Ländern gibt. Maximal negativ wirkt sich auch ein Schulwechsel etwa durch einen Umzug der Familie aus. Man kennt ja das Sprichwort: Vater versetzt, Kinder sitzengeblieben.

Gilt das auch für einen Wechsel von einer Schulform auf die andere? Das spräche ja dann für eine Gesamtschule …

Um mit Hattie zu argumentieren: Wenn wir alle Schulen in Gesamtschulen verwandeln würden, aber der Unterricht genauso bliebe, würde sich nichts ändern. Die Gesamtschulen bieten die Möglichkeit, innerhalb einer Schulform den Bildungsgang zu wechseln. Im gegliederten System muss man die Schulform und in aller Regel das Schulgebäude wechseln. Insofern bieten integrative Systeme gewisse Vorteile. Ich warne aber davor zu glauben, dass mit einer flächendeckenden Einführung der Gesamtschule das Paradies ausbricht.

Nordsee-Zeitung, Montag, 17. März 2014

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