Eine ›Pädagogik der Vielfalt‹ und ›Pädagogische Ethik‹ sind eng mit dem Namen Annedore Prengel verbunden. Nach zehn Jahren im Schuldienst war sie Pädagogische Mitarbeiterin an der Universität Frankfurt/Main. Bis 2010 lehrte sie u. a. Erziehungswissenschaft und Grundschulpädagogik in Paderborn, an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sowie an der Universität Potsdam. 2010 wurde sie emeritiert und widmet sich weiterhin der Forschung, Lehre und Fortbildung. Seit 2013 lehrt Annedore Prengel als Seniorprofessorin an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Heterogenität in der Bildung, Pädagogische Beziehungen, Inklusion in KiTa und Schule.
»Jedes Kind ist liebenswert.«
Frau Prengel, Sie befassen sich seit Jahren mit den ethischen Dimensionen in pädagogischen Beziehungen. Was waren die Anlässe, sich wissenschaftlich und praktisch mit Fragen der pädagogischen Ethik zu befassen?
In eigenen Unterrichtsbesuchen und in Hospitationsberichten wurde immer wieder deutlich, dass einige Lehr- und Fachkräfte Kinder und Jugendliche respektvoll ansprechen, während andere sie demütigen und entmutigen – und zwar unter den gleichen Arbeitsbedingungen. Durch die vielen Einzelfälle, die ich immer wieder kennenlernte, wurde mir bewusst, dass eine Auseinandersetzung mit ethischen Grundlagen pädagogischen Handelns fehlt.
Können Sie kurz umreißen, was Sie unter pädagogischer Ethik verstehen?
Pädagogische Ethik befasst sich mit der Frage: Wie sollen wir pädagogisch angemessen handeln?
In den Bildungswissenschaften und der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern wird pädagogische Ethik vor allem in den Kontext der ›Werteerziehung‹ gestellt. Es geht dabei insbesondere um die Entwicklung von Werthaltungen bei Kindern und Jugendlichen. Die Lehrpersonen befinden sich sozusagen außerhalb des Spielfeldes.
Ja, es ist erstaunlich, dass vor allen Dingen in der Schulpädagogik wenig Aufmerksamkeit auf ethisch angemessenes Handeln der Lehrerinnen und Lehrer gerichtet wird. Und zwar vor allem auf der Beziehungsebene.
Das sehen Sie anders. Sie räumen der Beziehungsfähigkeit einer Lehrkraft einen besonderen Stellenwert ein. Warum?
Unablässig finden in allen pädagogischen Arbeitsfeldern pädagogische Beziehungen statt. Jede Lernsituation ist auch zugleich eine Beziehungssituation. Die Qualität der Beziehung wird geprägt durch das Klima, das von der Lehrperson ausgeht, die sich ja in der mächtigeren Position befindet. Entwicklung und Lernen der Kinder sind von der Beziehungsfähigkeit der Lehrperson abhängig. Zahlreiche Forschungsrichtungen, z. B. die Bindungs-, Bedürfnis-, Vertrauens- und Schulleistungsforschung belegen immer wieder neu diese Einsichten. Für Kinder und Jugendliche in Not sind sie von noch erheblicherer existentieller Bedeutung.
Sie haben eine Beobachtungsstudie zu alltäglichen pädagogischen Interaktionen durchgeführt und etwa 15.000 Interaktionsszenen aus rund 120 Schulen ausgewertet. Wie sind Sie vorgegangen und welche Handlungsmuster haben Sie identifiziert?
Über Jahre haben zahlreiche Studierende und junge Wissenschaftlerinnen Interaktionen in pädagogischen Arbeitsfeldern mittels ›Teilnehmender Beobachtungen‹ (selbstverständlich anonymisiert) erhoben und anhand qualitativ-quantitativer Inhaltsanalysen ausgewertet. Sie alle wurden anhand gemeinsamer methodischer Vorgaben geschult. Der so entstandene Datensatz ermöglicht zwar keine ›Messung‹, aber er lässt sehr gut begründete Vermutungen darüber zu, wie und wie häufig Kinder und Jugendliche durch Lehr- und Fachkräfte Anerkennung und Verletzung erfahren.
Können Sie uns ein oder zwei Beispiele geben für typisch verletzende und anerkennende Handlungsweisen?
Zwei Beispiele für verletzendes Handeln: Frau M. sagt zu einer Schülerin: »Du brauchst dich nicht zu melden, dich nehme ich nicht dran, du weißt die Antwort sowieso nicht«. Oder ein weiteres Beispiel: Herr K. sagt zu einem Schüler während eines Tests: »Schreib wenigstens Deinen Namen drauf, damit überhaupt was draufsteht«.
Und Beispiele für anerkennendes Handeln: In einer unruhigen Situation nach einem Raumwechsel stimmt Herr E. mit seinem Akkordeon ein rhythmisch betontes Lied an und regt die Kinder an, temperamentvoll mitzusingen, so dass eine freudvolle Situation entsteht. Oder: Konrad fällt hin und weint. Frau S. läuft sofort zu ihm und nimmt ihn in den Arm: »Komm, wir schauen uns das mal an.« Sie gehen zur Bank und setzen sich.
In vielen Szenen werden Leistungen von Schülerinnen und Schülern anerkennend gewürdigt.
Der Grat zwischen einem lockeren Spruch und einer seelischen Verletzung kann sehr schmal sein.
Ja. Darum ist es notwendig, immer wieder zu reflektieren, wo die Grenze zur Verletzung überschritten wird. Das ist zum Beispiel beim Thema Heiterkeit bedeutsam, denn oft wird – zum Beispiel initiiert durch Lehreräußerungen – auf Kosten eines Jugendlichen gelacht. Wenn der dann selbst mit lacht, scheint ja alles in Ordnung zu sein. Aber bei genauerem Hinsehen kann deutlich werden, dass er versuchte, gute Miene zu bösem Spiel zu machen und dass solche Verletzungen kein Spaß sind.
Sie schreiben, dass mit durchschnittlich jeder vierten Lehrer-Schüler-Interaktion eine Verletzung verbunden ist und Kinder, rein rechnerisch, im Schnitt täglich mindestens zwei Mal Zeugen einer starken psychischen Verletzung eines anderen Kindes werden.* Was löst das bei Kindern und Jugendlichen aus, und wie reagieren sie?
Schon die Beobachtung der äußerlich sichtbaren Reaktionen der Lernenden zeigt, dass Handlungsweisen unmittelbare Wirkung haben: Anerkennung fördert Lernen. Verletzung blockiert Lernen, so erstarren die Kinder zum Beispiel, ziehen den Kopf ein, starren zu Boden, wenn sie persönlich negativ angesprochen oder angeschnauzt werden.
Was macht dann eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung aus?
Grundlage einer guten Lehrer-Schüler-Beziehung ist der ausgeprägte Wille der Pädagoginnen und Pädagogen, Entwicklung und Lernen der ihnen Anvertrauten zu unterstützen. Auf dieser Basis kann eine Kombination aus fachdidaktischer Qualifikation und von Anerkennung geprägter Haltung, die eine gute pädagogische Beziehung auszeichnet, zum Tragen kommen. Grundlegend sind dabei drei Einsichten: Jedes Kind, jede Jugendliche ist liebenswert. Jedes Kind, jeder Jugendliche ist auf seiner Stufe kompetent. Jedes Handeln eines Kindes oder Jugendlichen ist subjektiv sinnvoll und es geht darum, diesen subjektiven Sinn möglichst zu entschlüsseln.
Ich kann mir vorstellen, dass das in einem heterogenen Kollegium nicht immer leicht umzusetzen ist.
Wenn die Mitglieder eines Kollegiums sich darin unterstützen und sich wechselseitig Rückmeldungen und Anerkennung geben, kann sich eine gute Atmosphäre des Wohlbefindens einstellen, die allen nützt. Wenn sich solche positiven Kreisläufe einspielen, kommt auch sehr viel Anerkennung von den Kindern zurück.
Was also ist zu tun? Sie haben mit den ›Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen‹ (s. S. 32) grundlegende pädagogische Verhaltensnormen, also einen Ethik-Katalog für gute Beziehungen in pädagogischen Settings aufgestellt. Was hat es damit auf sich?
In unserem Bildungswesen fehlt es an einer Kunstfehlerlehre, wie es sie zum Beispiel in der Medizin gibt, aber auch weitgehend an Anerkennung für engagiertes schülerfreundliches Handeln. Es gibt viele Bereiche der Angewandten Ethik, z. B. Medienethik, Wirtschaftsethik, Sportethik usw. Aber eine Pädagogikethik wurde bisher nicht systematisch ausgearbeitet. Die ›Reckahner Reflexionen‹ bilden einen Anfang. Sie haben zum Ziel, zur Verbesserung pädagogischer Beziehungen beizutragen. Sie wollen auf allen Handlungsebenen dazu anregen, ethische Aspekte pädagogischer Beziehungen zu beachten. Die ›Reckahner Reflexionen‹ sind eine Art Manifest für alle pädagogischen Arbeitsfelder, das in fünfjähriger Arbeit von ca. 150 Fachleuten entwickelt wurde.
Mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung wird es im ganzen Bildungswesen verbreitet. Man kann die ›Reckahner Reflexionen‹ unterzeichnen, einen Newsletter dazu bestellen oder an Fortbildungen teilnehmen Alle Informationen dazu finden sich auf der Website www.paedagogische-beziehungen.eu.
Ihnen geht es darum, das Wohlbefinden von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen zu stärken und Schritte einer menschenrechtlich fundierten Anerkennung im Bildungswesen zu gehen? Wie weit sind wir gekommen, und wo stehen wir heute?
Während Körperstrafen und sexualisierte Gewalt eindeutig verboten sind und auch juristisch geahndet werden, bilden seelische Verletzungen die häufigste und zugleich die am meisten ignorierte Form der Gewalt gegen Kinder. Es ist eine wichtige Aufgabe aller Erwachsener, die im Bildungswesen Verantwortung tragen, diese Situation zu ändern.
* Annedore Prengel: Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Verlag Barbara Budrich, Berlin 2013.
Das Gespräch führte Jörg Matzen.