Oskar Reinhard Negt ist ein deutscher Sozialphilosoph. Er verbindet als Wissenschaftler die Soziologie mit der Philosophie. Oskar Negt über sich selbst: „Im Grunde bin ich in meiner ganzen wissenschaftlichen Entwicklung durch das Raster der Disziplinen gefallen.“
»Kompetenz und Orientierung«
Herr Negt, wenn Sie die gegenwärtige Bildungslandschaft übersehen, welche Tendenzen nehmen Sie in der aktuellen Bildungsdiskussion wahr?
Das Problem dieser Gesellschaft besteht ja darin, dass sie praktisch die betriebswirtschaftliche Mentalität für die oberste Norm ökonomischen Handelns ansieht. (…) Zum ersten Mal dringen handfeste ökonomische Kategorien in die Struktur von Bildungsprozessen ein. Darin sehe ich die eigentliche Bedrohung von Bildung überhaupt. Und das beschränkt sich jetzt nicht auf einzelne Bereiche, sondern ergreift buchstäblich den gesamten Kulturbereich. Das hat etwas Gefährliches an sich, weil das radikal nicht nur den offiziellen Erklärungen widerspricht, sondern den Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Situation. Wir befinden uns in einer gesellschaftlichen Umbruchsituation epochalen Zuschnitts auf der Ebene der Arbeitsgesellschaft, der Technologie, der Ökonomie, so dass eigentlich Reflexions- und Bildungsprozesse die einzige Chance sind, diese Umbrüche und auch diese Konflikte einigermaßen zu bewältigen. Es wäre also nicht an der Zeit, die Bildungsausgaben zu kürzen, sondern sie wesentlich zu erweitern.
Der öffentliche Bildungsauftrag wird politisch in einer Weise formuliert, dass die Bildungsträger Mittel für definierte Leistungen erhalten. Öffentliche Aufgaben werden privatisiert und an Bildungsträger delegiert. Wie definieren Sie vor diesem Hintergrund den öffentlichen Bildungsauftrag?
Sie haben ganz recht, die Tendenzen der Privatisierung bedeuten in dem Sinne Entlastung öffentlicher Haushalte, und insofern wird der Bildungsauftrag jetzt privatisiert, aber eben doch so definiert, dass es immer stärker zu einer Privatangelegenheit wird, ob man sich bildet oder nicht (…); es ist der unternehmerische Mensch, der dann seines Glückes eigener Schmied sein soll. Hier vollziehen sich Umdefinitionen des Menschenbildes unter der Hand der Ökonomisierung.
Wohin könnte diese Entwicklung führen?
Sie führt z. B. zu einer Reduktion der Bildung auf schnell anwendbare Fertigkeiten, also so eine Art just in time Produktion in der Bildung. Bildung (…) hat auch immer etwas mit dem Anlegen von Vorratslagern zu tun. Das heißt, man braucht für die Persönlichkeitsbildung nicht alles unmittelbar, was man lernt, aber man hat ein Vorratslager an Begriffen, an Sichtweisen und Intentionen. (…) Wenn es nur noch darauf ankommt, in schnellem Takt zu lernen, zeigt sich auch hier ein radikaler Widerspruch zu dem, was eigentlich notwendig wäre, denn gerade in dieser hoch technologisierten Zeit ist es notwendig, dass die Menschen einen viel weiteren Begriff von ihrer Gesellschaft, von ihrem Lebenszusammenhang bekommen.
Was müsste in diesen ›Vorratskammern‹ enthalten sein?
Wissen ist ein wesentlicher Bestandteil einer solchen Vorratshaltung. Aber gleichzeitig brauchen wir Möglichkeiten und Verfahrensweisen des überschreitenden Denkens. Also, sich zu orientieren an etwas anderem als an Kommerzialisierung und ökonomischem Handeln. Das meint den Versuch, eigenen Sinn in dem zu haben, was man tut und was man nicht tut. Kompetenz und Orientierung sind heute wesentliche Elemente von Bildung. Und das Bedürfnis nach Orientierung ist gewaltig angestiegen.
Und gleichzeitig ist die Frage, wie ohne die normativen Stützpfeiler, die in der Vergangenheit ja auch ganz wesentlich die Identitätskonstruktionen der Einzelnen abgesichert haben, es gelingen kann, eigenen Sinn zu entwickeln.
Ich kann die Frage, ›woher kommen die Ressourcen‹, nur so beantworten: die sind da! Die Menschen lassen sich nicht alle dumm machen. Da ist eine Eigensinnigkeit im Spiel, die Alexander Kluge und ich als ›Maulwurfsarbeit‹ betrachtet haben. Die Menschen nehmen etwas nicht hin, ohne gleichzeitig Protest zu entwickeln. Und dieser Protest hat ganz verschiedene Formen. Einerseits, indem so eine Vorratslagerbildung stattfindet (…), dass man bereit ist, etwas aufzunehmen, was nicht zur beruflichen Kompetenz gehört, und auf der anderen Seite ist natürlich genauso ein emotionaler Widerstand gegen das, was einem angetan wird, da, wie bei den Rebellierenden in Paris. (…) Ich will damit sagen, dass diese Eindimensionalität, die eigentlich hergestellt werden soll, überhaupt nicht funktioniert, sondern auf vielfachen Widerstand stößt.
Wer könnte die Sprachfähigkeit derer, die nicht mehr zu sprechen in der Lage sind, organisieren und als Anwalt im gesellschaftlichen Raum auftreten?
Solche Bildungszentren wie Ihres. Ich glaube nicht, dass der große Wurf möglich ist. Ich glaube, (…) dass es nicht mehr das große Zentrum und die große Agentur gibt, auf die man vertrauen kann. (…) Daher haben Bildungseinrichtungen (…) eine große Bedeutung für so etwas, was sich allmählich zusammenfügt (…).
Herr Negt, welche Forderungen an die Politik, vielleicht auch an die Kirche, würden Sie hinsichtlich der Ausstattung von Bildungseinrichtungen formulieren? Es ist ja schon bemerkenswert, dass sich die Kirche der Verantwortung für Bildung offenbar entzieht und die Mittel drastisch zurückfährt.
Ich meine, Institutionen wie die Kirchen, und das gilt im Übrigen genauso für die Gewerkschaften, befinden sich im Augenblick in einer Bildungskrise. Die eigentliche politische Bildung liegt im Argen. Ich glaube, dass es ein sehr kurzfristiges Denken ist, gerade auf der Ebene Einschränkungen vorzunehmen, wo der Bedarf doch größer geworden ist. Vielleicht wird sich das am Ende sogar materiell für die Kirchen und Gewerkschaften auswirken, dann nämlich, wenn die Zahl der zahlenden Mitglieder zurückgeht. Ich halte es für möglich, dass, wenn jetzt die Kirchen ihr Bildungsangebot so radikal nach unten fahren, die Attraktivität der Kirche für junge Leute nicht wächst, sondern abnimmt.
Das Gespräch führte Jörg Matzen.